Aufgeklärte Erziehung, politische Reflexion und moralphilosophisches Denken im ausgehenden 18. Jahrhundert. Nach dem Tod Christoph Daniel von der Schulenburg im Jahr 1763 ging das Schloss Angern mitsamt der umfangreichen Bibliothek in den Besitz seines Neffen Alexander Friedrich Christoph von der Schulenburg über. Dieser erbte nicht nur ein materielles, sondern auch ein geistiges Vermächtnis. Die unter seiner Verantwortung vorgenommene Erweiterung der Sammlung markiert eine signifikante Verschiebung im thematischen Profil: Während Christoph Daniels Bibliothek von militärischer Theorie, höfischer Historiografie und staatsphilosophischen Grundlagen geprägt war, treten in der Generation seines Erben moralphilosophische Erziehung, aufklärerische Didaktik und individualisierte Geschichtskultur in den Vordergrund.
Wichtige Werke der Bibliothek (1761–1800)
Ein Schlüsseltext dieser neuen Ausrichtung ist Friedrich II. von Preußens Mémoires pour servir à l’histoire de Brandebourg (1758). Die Verbindung von historiografischer Darstellung mit philosophischer Deutung spiegelt exemplarisch den Geist des aufgeklärten Absolutismus und markiert einen Bruch mit der rein chronistischen Geschichtsschreibung des Ancien Régime. Die Aufnahme dieses Werks in die Bibliothek verweist auf ein wachsendes Interesse an historischer Selbstverortung im Lichte staatstheoretischer Reflexion.
Ähnlich programmatisch ist der anonyme Text Pensées de Monsieur le comte D’Oxenstir (1754), der in aphoristischer Form Regierungskunst, Weisheit und Tugend verhandelt. Der stilisierte Rückgriff auf den schwedischen Staatsmann Axel Oxenstierna verweist auf eine humanistisch geprägte Staatsphilosophie und eine neue Wertschätzung pragmatischer Regierungsethik im Zeichen der Aufklärung. Die doppelte Ausführung des Werks in der Sammlung deutet auf eine gezielte didaktische Verwendung hin.
Ein paradigmatisches Beispiel adliger Erziehungsstrategien bietet Instruction d’un père à sa fille (1752) von M. du Puy. Die Orientierung an weiblicher Tugend, Anstand und moralischer Klugheit reflektiert die zunehmende Bedeutung der Tochtererziehung im Kontext höfischer wie bürgerlicher Repräsentationskulturen. Dieses Werk lässt sich als Ausdruck einer aufgeklärten Vaterrolle deuten, wie sie im ausgehenden 18. Jahrhundert zunehmend idealisiert wurde.
Noch deutlicher wird der kulturelle Wandel in den Mémoires et aventures d’un homme de qualité (1751), die in fiktionaler und introspektiver Form individuelle Erfahrung und ethische Selbsterkenntnis ins Zentrum rücken. Im Anschluss an Prévosts Romantradition markieren sie die Hinwendung zur Innerlichkeit, wie sie mit dem literarischen Individualismus der Aufklärung einhergeht – und damit auch ihren Einzug in die Adelskultur findet.
Von besonderer Bedeutung für die sittlich-intellektuelle Selbstformung war das dreibändige Werk Les leçons de la sagesse (1743). Diese Sammlung moralphilosophischer Lehren, verwurzelt in klassischer und christlicher Tugendethik, diente nicht nur der kontemplativen Lektüre, sondern der gezielten ethischen Formung. Ihr zentraler Stellenwert innerhalb der Bibliothek legt nahe, dass sie als Leitfaden einer „Kultur der Selbstbildung“ verstanden wurde.
Diese Werke, teils bereits zu Lebzeiten Christoph Daniels erschienen, wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit von Alexander Friedrich Christoph gezielt aufgenommen oder bewusst erhalten, da sie den Geist seiner Generation atmen. In ihnen manifestiert sich der Übergang des Adels zu einer Lebensform, die Rationalität, moralische Bildung und politische Reflexion zu neuen Leitwerten erhebt. Die Bibliothek unter seiner Leitung erscheint somit als intellektuelles Labor eines Adels im Wandel – ein Ort, an dem sich alte Autorität mit neuen Orientierungen verschränkt, und an dem die europäische Aufklärung konkrete Gestalt im Bücherregal annimmt.