Der Zusammenbruch des Dritten Reichs ist einer der zentralen historischen Bezugspunkte im Tagebuch von Graf Sigurd Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg-Angern. Seine Schilderungen und Reflexionen bieten einen tiefen Einblick in die Wahrnehmung dieses epochalen Umbruchs aus Sicht eines konservativen, christlich geprägten Adligen im Mai 1945. Der Tagebuchtext ist ein außergewöhnliches Beispiel für eine konservative, religiös durchdrungene Deutung des Zusammenbruchs des Dritten Reichs. Sigurd verurteilt das NS-Regime als gottlos, moralisch verwerflich und letztlich zerstörerisch für das deutsche Volk. Er betrachtet den 8. Mai 1945 nicht als totale Niederlage, sondern als göttlich gelenkten Wendepunkt – eine Haltung, die im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland nicht selbstverständlich war.
Deutung des Zusammenbruchs als religiöse Befreiung
Sigurd interpretiert das Ende des Nationalsozialismus nicht nur als militärische Niederlage, sondern als spirituelle Erneuerung:
„Denn es ist die Lebensbedingung des Deutschen Volkes wieder hergestellt, nämlich die Verbundenheit mit dem Schöpfer und Weltenbeherrscher, die unter Adolf Hitler und seiner ‚Rotte Kora‘ abgerissen war.“
(Tagebuch, 22. Mai 1945)
→ Deutung: Der Nationalsozialismus habe Deutschland vom Glauben an Gott getrennt – eine Sünde, die zum Untergang führen musste. Der Zusammenbruch sei deshalb nicht nur Strafe, sondern auch eine Chance zur Rückkehr zu göttlicher Ordnung.
Scharfe Kritik am Nationalsozialismus
Sigurd spricht sich ungewöhnlich deutlich gegen das NS-Regime aus – auch im Vergleich zu vielen seiner Standesgenossen, die Hitler zunächst unterstützten oder duldeten:
„Dieser [NS] mußte verschwinden, und wenn sogar durch einen […] Sieg unserer Feinde. Darin liegt auch für uns […] die Rettung eines dem Untergang geweihten Volkes.“
„Ein Fluch ist vom deutschen Volk gewichen.“
→ Fazit: Für Sigurd ist Hitler nicht der Retter, sondern der Verderber Deutschlands. Er nennt ihn und seine Gefolgschaft sogar „Rotte Kora“ – eine biblische Anspielung auf den Aufstand Korachs gegen Mose, der mit göttlicher Strafe endete (4. Mose 16).
Persönlicher Verlust als Symbol der Zeitenwende
Direkt nach seiner Rückkehr erfährt Sigurd vom Tod seines Vaters, den er als einen der „gewissenhaftesten Menschen“ beschreibt. Dessen Tod wird als Teil des Endes einer alten Ordnung empfunden:
„Ein kerniger, charakterfester deutscher Mann […] ist mit ihm ins Grab gesunken. Solche Männer wie er brauchen wir, um Deutschland aus den Trümmern wieder aufzubauen.“
→ Symbolik: Der Tod des Vaters steht für das Ende einer Epoche – und den Beginn einer unsicheren neuen Zeit.
Der Zerfall staatlicher Strukturen
Nach Kriegsende ist die Verwaltung in Auflösung oder im Neuaufbau. Sigurd berichtet von einer „psychotischen Gerüchteküche“, wer künftig die Macht innehat – Amerikaner, Engländer, Russen? Es herrscht völlige Unsicherheit.
„So ruht also das Geschäftsleben, Verkehr mit Bank, Rechtsanwalt, Steuerbehörde – und Berater noch ganz.“
(28. Juni 1945)
→ Historisch: Dies beschreibt den „Nullpunkt“ der staatlichen Ordnung nach der Kapitulation. Die Besatzungsmächte mussten in weiten Teilen die Grundversorgung erst wiederherstellen.
Hoffnung auf inneren Wiederaufbau
Trotz allem sieht Sigurd im Zusammenbruch eine Möglichkeit für Neuanfang:
„Mit Gott vorwärts und aufwärts! – und sei es auch aus dem tiefsten Abgrund der Not […] Ein 80-Millionenvolk ist nur dann auf Dauer zu überwältigen, wenn es sich von Gott lossagt.“
→ Vision: Der Wiederaufstieg Deutschlands soll auf christlichen Werten und der Rückbesinnung auf geistige, sittliche Ordnung beruhen – ein Gegenentwurf zur NS-Ideologie.