Am 4. Januar 1946 verließ Sigurd Wilhelm Christoph Daniel Graf von der Schulenburg gemeinsam mit seiner Familie das Schloss Angern – nach 498 Jahren ununterbrochener Familientradition an diesem Ort. Der Abschied war nicht Flucht im herkömmlichen Sinne, sondern eine Zwangsausweisung durch die sowjetische Besatzungsmacht, formell eingeleitet durch eine schriftliche Verfügung vom 29. Dezember 1945 im Rahmen der kommunistisch gesteuerten Bodenreform.
Was er in seinem Tagebuch nicht schreibt, ist ebenso aufschlussreich wie das, was er festhält: Zwischen dem 10. Oktober 1945 – dem Tag der öffentlichen Enteignung – und dem 3. Januar 1946, dem Tag vor seiner Ausweisung, herrscht eine erschütternde Stille im Tagebuch:
"Kein Tagebuch ist geführt von dem Tag der Enteignung [...] bis zum Tage der Ausweisung [...]. Dies ist auch in diesem Sinne eine Zeit grauenhafter Leere und Dunkelheit."
Diese Pause wirkt wie ein Schweigen vor dem Sturm, das Scheitern eines inneren Widerstandes, eines Denkens in Pflicht, Stand und Glaube. Sigurd war kein Mann, der leicht aufgab – und doch endete für ihn das 20. Jahrhundert wie für viele preußische Adlige in Enteignung, Vertreibung und einem tiefen Gefühl von Heimatverlust.
"Sie sind enteignet! Sie haben keinerlei Anrechte mehr!"
So lautete der kalte Satz, den ein kommunistischer Funktionär am 10. Oktober 1945 an Paula Gräfin von der Schulenburg richtete. Der Moment war theatralisch, öffentlich inszeniert, als symbolische Machtübernahme über eine untergegangene Ordnung. Die Enteignung betraf nicht nur die landwirtschaftlichen Flächen – sie umfasste auch das gesamte Schloss, den Hausrat, die Möbel, Kunstsammlungen und das Familienarchiv. Sigurd beschreibt im Tagebuch:
"Die Verordnung nimmt das gesamte Hausinventar und anderes persönliches Vermögen (Anzüge, Wäsche; Schmuck) auf." "Auch der Landrat schreitet da nicht ein."
Kein Kunsttransport, keine Flucht
Im Gegensatz zu anderen ostdeutschen Gutsbesitzern wie Marion Gräfin Dönhoff, die 1945 mit dem Pferd über 1.200 Kilometer floh, oder Familien wie von der Groeben, von Arnim oder von Below, die Archive und Kunstwerke in Lastwagen über die Elbe schafften, entschied sich Sigurd bewusst, nicht zu fliehen und nichts außer Landes zu bringen. Sein Verhalten war ungewöhnlich – und in gewisser Weise konsequent.
Obwohl er ahnte, was kommen würde, vertraute er auf Verantwortung, Würde und Glauben. Im Rückblick wirkt diese Haltung zugleich heldenhaft und tragisch. Denn nahezu der gesamte Besitz wurde beschlagnahmt, manches entwendet, anderes durch Kommissionen geborgen und später an Museen und Archive verteilt. Erst nach der Wende gelangten Teile der Bestände (z. B. Gemälde, Archivmaterial) durch Rückübertragungen wieder nach Angern zurück.
Dass Sigurd Graf von der Schulenburg nicht bereits im Frühjahr 1945 floh – wie viele andere ostelbische Adlige –, hat mehrere, eng miteinander verwobene Gründe, die aus seiner Persönlichkeit, seiner sozialen Prägung und seiner religiös-moralischen Weltsicht hervorgehen:
1. Pflichtbewusstsein und Verwurzelung: Sigurd war tief im aristokratischen Pflichtethos verwurzelt. Als Majoratsherr, ehemaliger Offizier und Christ sah er sich in der Verantwortung gegenüber dem Familienbesitz, dem Dorf und seinen Vorfahren. Die Vorstellung, Haus, Hof und Menschen sich selbst zu überlassen, war für ihn moralisch kaum denkbar. In seinen Tagebüchern schreibt er:
„Möge Gott uns die Möglichkeit eines Neuaufbaus der geistig-wirtschaftlichen Existenz auf dem alten bewährten Grund und Boden geben.“ (Mai 1945)
2. Gottvertrauen statt Selbstrettung: Sigurd deutete das Ende des Dritten Reiches und die Umwälzungen der Nachkriegszeit im Lichte göttlicher Fügung. Für ihn war die Katastrophe eine göttliche Strafe für das gottlose Handeln des Nationalsozialismus – aber auch eine Chance auf geistige Erneuerung. Er glaubte, dass Standhalten und Treue zum Ort Teil eines göttlichen Plans seien:
„Mit Gott vorwärts und aufwärts – und sei es auch aus dem tiefsten Abgrund der Not!“ (22. Mai 1945)
3. Hoffnung auf rechtliche Ordnung: Sigurd vertraute lange auf eine baldige politische Stabilisierung durch die Westmächte. Im Tagebuch zeigt sich wiederholt seine Hoffnung, dass die britische oder amerikanische Besatzung zurückkehren könnte, um Ordnung und Recht wiederherzustellen. Die Vorstellung, von den Sowjets langfristig kontrolliert zu werden, erschien ihm anfangs unmöglich.
4. Körperliche und logistische Hürden: Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr (Mai 1945) war er fast 63 Jahre alt, gesundheitlich angeschlagen und gerade aus amerikanischer Internierung entlassen worden. Seine Familie war zersplittert, das Schloss teils von Lazaretten und Evakuierten belegt. Eine geordnete Flucht mit Hausrat, Kindern, Archivgut und Kunstwerken war logistisch kaum mehr möglich – ohne Vorwarnung, Transportmittel oder sicheres Ziel.
Fazit: Sigurds Entscheidung, nicht zu fliehen, war kein Mangel an Weitsicht, sondern Ausdruck eines tiefen Verantwortungsbewusstseins, eines christlich gefärbten Pflichtethos und einer letztlich tragischen Hoffnung, dass Haltung, Würde und Gottvertrauen das Schlimmste verhindern könnten. In seiner Welt war Weggehen nicht Option, sondern Kapitulation. Und so blieb er – bis ihn die Verhältnisse schließlich zum Gehen zwangen.
Eine späte Flucht, wie sie Sigurd ab Herbst 1945 noch hätte antreten können, war mit erheblichen Gefahren verbunden. Nach der Besatzungszonenregelung und der Umsetzung der sowjetischen Bodenreform wurden Fluchtversuche zunehmend überwacht und bestraft. Die Grenzen zur westlichen Zone waren faktisch geschlossen, der Verkehr eingeschränkt und Flüchtende liefen Gefahr, als Saboteure oder „Volksfeinde“ behandelt zu werden – mit Konsequenzen wie Internierung, Enteignung und Repressalien. Wer floh, verlor zudem sämtliche Restansprüche auf Eigentum. Für Sigurd, dessen Besitz bereits beschlagnahmt war und dessen Familie unter Beobachtung stand, hätte eine Flucht die Situation eher verschärft. Sein Verbleib in Angern war somit nicht nur Ausdruck von Haltung, sondern auch eine realistische Einschätzung der Lage – zwischen innerer Pflicht und äußerer Ausweglosigkeit.
Der stille Weg ins Ungewisse
Am 4. Januar 1946 verließ die Familie Angern nicht in Panik, sondern geordnet – aber gedemütigt, enteignet und entwurzelt. Sigurd führt ab dem 4. Januar sein "Tagebuch in der Fremde" weiter – ein geistiges Überlebensinstrument, das ihn durch die Jahre des Exils tragen sollte.
Sein Verhalten unterscheidet sich markant von vielen anderen – etwa von denen, die mit Pferdewagen über die Elbe flohen. Es war der Weg eines Mannes, der nicht kapitulierte, sondern standhielt – bis man ihn zwang zu gehen.
Sigurd endet sein Tagebuch in der Fremde am 30. Juli 1950 mit dem Satz
"Hier in Lemgo gehen die Tage ziemlich gleichförmig dahin."