Zwischen Furcht und Fassung. Besonders eindrücklich schildert das Tagebuch den Umgang mit der heranrückenden Roten Armee – zwischen tief verwurzelter Angst, beobachteter Realität und ideologisch-religiös geprägten Deutungsmustern. Das Tagebuch des Grafen Sigurd Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg aus dem Jahr 1945 (Gutsarchiv Angern) dokumentiert ein ambivalentes Erleben der sowjetischen Besatzung. Zwischen tiefer Angst und beobachteter Zurückhaltung, zwischen individueller Erleichterung und kollektiver Verzweiflung, entwickelt sich ein Spannungsfeld, das für viele Menschen in der SBZ typisch war. Das persönliche Zeugnis des Grafen von der Schulenburg ist dabei nicht nur ein historisches Dokument, sondern auch ein Spiegel des inneren Ringens einer untergehenden gesellschaftlichen Ordnung mit einer neuen, fremden Macht.
Die Angst vor der Roten Armee
Bereits Wochen vor Eintreffen der sowjetischen Truppen herrscht im Herrenhaus Angern eine existenzielle Angst. Sigurd fürchtet Plünderungen, Vergewaltigungen und Verschleppungen nach Russland:
„Die Frauen Freiwild für die Bestialität der Bolschewiken … Nur die Flucht in die von Engländern besetzten Gebiete würde helfen.“ (1. Juli 1945)
Diese Befürchtungen speisen sich aus NS-Propaganda, aus Berichten aus den Ostgebieten sowie aus realen Vorkommnissen in der Endphase des Krieges. Die Unsicherheit angesichts unkontrollierter Gerüchte wirkt sich auch psychisch aus: Eine Familie begeht aus Angst Selbstmord.
Erste Begegnungen: Erstaunliche Zurückhaltung
Die erste tatsächliche Begegnung mit sowjetischen Soldaten verläuft jedoch überraschend ruhig:
„Ein Kommando von einem Offizier und zwei Mann in der Molkerei … haben Butter gekauft und bezahlt.“ (1. Juli 1945)
Trotz großer Befürchtungen zeigt sich ein differenziertes Bild: Einzelne Truppenteile treten diszipliniert auf, teilweise unter Berufung auf Stalins Befehl zur Todesstrafe für Plünderer und Vergewaltiger. Es bleibt jedoch eine ständige Ambivalenz zwischen Hoffnung und Furcht.
Beobachtete Realität: Widersprüchlich und beunruhigend
Im weiteren Verlauf des Sommers 1945 dokumentiert Sigurd widersprüchliche Erfahrungen:
- In Tangerhütte demolieren Soldaten eine Wirtschaft, bis ein Offizier einschreitet.
- In Angern selbst ist es ruhig; kaum ein Russe lässt sich blicken.
- In Colbitz hingegen erfolgen willkürliche Festnahmen von Zivilisten.
Der Alltag bleibt geprägt von Unsicherheit und einem wachsamen Misstrauen gegenüber der neuen Besatzungsmacht.
Registrierungen, Deportationen und Gerüchte
Die Angst vor Zwangsverschleppung bleibt allgegenwärtig. Als junge Frauen zur Registrierung aufgefordert werden, bezieht Sigurd seine Hoffnung aus der Tatsache, dass es sich scheinbar nur um Arbeitsanmeldungen handelt. Dennoch schildert er auch, wie Männer in umliegenden Orten willkürlich abgeholt werden:
„Die Russen kümmern sich nicht im Geringsten um die Entscheidungen der Amerikaner oder Engländer …“ (22. Juli 1945)
"Organisierte Willkür" im Alltag
Auch die kleinen Episoden des Alltags verdeutlichen das Verständnis von Eigentum und Ordnung auf sowjetischer Seite:
- Tauschgeschäfte zu ungleichen Bedingungen
- "Organisieren" (Diebstahl) von Gegenständen
- Naiver Umgang mit Technik (z. B. Wecker, der losgeht, wird ängstlich zu Boden geworfen und beschossen)
„Was sind das überhaupt für Kinder! Diese Herren, die Mitteleuropa eine neue Kultur bringen wollen …“ (28. Juli 1945)
Theologisch-moralische Deutung des Geschehens
Sigurd interpretiert die sowjetische Besatzung als Folge der Gottlosigkeit des Dritten Reiches und als Prüfung für das deutsche Volk:
„Ihre Aufgabe im Weltenplan ist wohl nur eine negative – durch abschreckendes Beispiel die Menschheit auf den Weg zu Gott zurückzuführen.“
Sein Weltbild bleibt auch unter den neuen Bedingungen klar verankert in einem protestantisch-konservativen Wertekanon.