Zwischen Hoffnung, Kontrollverlust und Angst. Das Jahr 1945 markiert einen tiefgreifenden Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Das Ende des Zweiten Weltkriegs bringt nicht nur militärische Niederlage, sondern auch einen politischen und gesellschaftlichen Umbruch mit sich. Im Mittelpunkt dieser Publikation steht das Dorf Angern in der Altmark und insbesondere das Tagebuch von Sigurd Wilhelm Christoph Daniel Graf von der Schulenburg, letzter Fideikommissherr auf Schloss Angern. Seine Aufzeichnungen zwischen Mai und August 1945 geben einen authentischen Einblick in die Erfahrungen der Besatzungszeit, den Wechsel der Machtverhältnisse und die tiefgreifenden psychologischen Auswirkungen auf die dort lebende Bevölkerung.
Die Demarkationslinie
Die Monate nach Kriegsende im Mai 1945 markierten im Osten Deutschlands eine radikale Zäsur. Auch in Angern, dem Familiensitz derer von der Schulenburg, wurde diese Zeit zu einer Phase zwischen Wiederaufbauwillen, existenzieller Unsicherheit und sich abzeichnender Enteignung. Zunächst von amerikanischen Truppen befreit, befand sich Angern – wie große Teile der Provinz Sachsen – vorübergehend in der amerikanisch-britischen Besatzungszone. Doch im Zuge der auf der Konferenz von Jalta (Februar 1945) und insbesondere im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 festgelegten Besatzungszonenordnung wurde das Gebiet östlich der Elbe den sowjetischen Truppen übergeben.
Am 1. Juli 1945 erfolgte der Rückzug der Amerikaner aus der Provinz Sachsen. In vielen Orten – so auch in Angern – wurde dieser Wechsel als Bedrohung empfunden. Sigurd von der Schulenburg hielt den Moment der Umstellung im Tagebuch fest:
„Mit einem großen Schrecken wurden wir heute Morgen […] geweckt durch den Ruf: Die Russen kommen! […] Stalin hat seinen Dickkopf wiederum durchgesetzt.“ (1. Juli 1945)
Ankunft der Russen
Diese Furcht war nicht unbegründet: Im gesamten Gebiet der späteren SBZ (Sowjetischen Besatzungszone) kam es vielerorts zu willkürlichen Requirierungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen und politischer Repression. Hinzu kamen Maßnahmen der sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), wie der Befehl Nr. 209 vom 9. September 1945, der die Durchführung der Bodenreform und die Enteignung „nationalsozialistischer Verbrecher und Großgrundbesitzer“ regelte – ein direktes Vorzeichen für das, was Angern erwartete.
Die Ankunft der sowjetischen Truppen verlief in Angern selbst zunächst diszipliniert – einzelne Soldaten kauften Butter und verhielten sich korrekt. Dennoch notierte Sigurd:
„Der Iwan ist eben sehr schnell mit der Aufstellung von ‘Arbeitsbataillonen’ bei der Hand.“ (10. Juli 1945)
„Sie seien 2000 Mann stark, Infanterie und Kavallerie, bei Bittkau über die Elbe gegangen.“ (2. Juli 1945)
Begleitet von Gerüchten über Massenvergewaltigungen und Deportationen ins sowjetische Hinterland, lebte die Familie in ständiger Anspannung. Eine Tragödie in der Nachbarschaft erschütterte das Dorf:
„Der arme Loß hat dieses Gottvertrauen nicht aufgebracht und sich und seine Familie vergiftet.“ (1. Juli 1945)
Enteignung
Im Herbst wurde die Angst zur Realität. Am 10. Oktober 1945 verkündete ein Funktionär der KPD unter sowjetischem Schutz öffentlich an Paula von der Schulenburg:
„Sie sind enteignet! Sie haben keinerlei Anrechte mehr!“ (10. Oktober 1945)
Diese Szene war Teil der in der Provinz Sachsen systematisch durchgeführten sowjetisch kontrollierten Bodenreform, die formal „Junkerland in Bauernhand“ versprach, in der Praxis jedoch häufig ohne rechtliche Grundlage ganze Familien enteignete und vertrieb. Dies betraf nicht nur den Boden, sondern auch das Schlossinventar, persönliche Gegenstände und Archivmaterialien. Wie Sigurd niederschrieb:
„Die Verordnung nimmt das gesamte Hausinventar und anderes persönliches Vermögen (Anzüge, Wäsche; Schmuck) auf.“ (26. September 1945)
Sigurd deutete diese politische und wirtschaftliche Enteignung als geistigen Umbruch, als Riss im kulturellen Fundament Deutschlands. Besonders deutlich wird das in seiner Einschätzung des Kommunismus:
„Ihre Aufgabe im Weltenplan ist doch wohl nur eine negative […] durch abschreckendes Beispiel die Menschheit auf den rechten Weg, den Weg zu Gott zurückzuführen.“ (28. Juli 1945)
Die Besatzungszeit bedeutete für ihn also nicht nur das Ende einer Epoche, sondern stellte auch die religiöse und moralische Grundordnung in Frage. Das Schloss Angern, das über Jahrhunderte Zentrum einer patrizialen Ordnung war, wurde nun zum Ort der Entwurzelung – bis die Familie am 4. Januar 1946 endgültig das Gut verlassen musste, nach 498 Jahren.
Literaturverzeichnis
- Schulenburg, Sigurd v.d.: Tagebuchaufzeichnungen Mai–August 1945 (Gutsarchiv Angern)
- Brülls, H./Könemann, D.: Denkmalverzeichnis Sachsen-Anhalt. Band 10.2: Ohrekreis. Halle 2001.
- Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Sachsen-Anhalt I. München 1990.
- Duncker, Alexander (Hg.): Die ländlichen Wohnsitze der Preußischen Monarchie. Berlin 1857–1883.
- Danneil, Johann Friedrich: Das Geschlecht der von der Schulenburg. Salzwedel 1847.
- Niedhart, G.: Der Besatzungswechsel 1945 in Sachsen-Anhalt. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 52 (2004), H. 3.