In wenigen Monaten wurde aus einem aristokratischen Gutsbesitzer ein Entrechteter, dessen geistiger Widerstand sich auf Worte und Gebete beschränkte. Sein Tagebuch dokumentiert eindringlich die Sprachlosigkeit des alten Deutschlands gegenüber der neuen Machtstruktur, aber auch die Unfähigkeit, sich mit ihr zu arrangieren oder sie als Teil einer gerechteren Zukunft zu verstehen. Die politische Lage in Mitteldeutschland im Jahr 1945 war durch einen tiefgreifenden Umbruch geprägt.
Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ am 8. Mai 1945 herrschte in weiten Teilen Deutschlands ein politisches Vakuum. Die Alliierten – insbesondere die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion – hatten Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt, wobei Sachsen-Anhalt und der Raum Magdeburg zunächst unter amerikanischer, ab Juli 1945 aber unter sowjetischer Kontrolle standen. Diese Verlagerung der Besatzungsmacht bedeutete für die Bevölkerung und insbesondere für den Großgrundbesitz eine dramatische Wende.
Im Gegensatz zur westlichen Besatzungspolitik, die zunächst auf eine geordnete Entnazifizierung und Verwaltungskontinuität setzte, verfolgte die sowjetische Besatzungsmacht von Beginn an eine tiefgreifende gesellschaftliche Umgestaltung, die sich stark an den Zielen der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) orientierte. Diese wurde bereits ab Juni 1945 mit sowjetischer Unterstützung flächendeckend in Verwaltung und Öffentlichkeit installiert, noch bevor es in anderen Zonen zu freien Wahlen kam. In der Provinz Sachsen, zu der auch Angern gehörte, übernahmen kommunistische Funktionäre gezielt Schlüsselpositionen in den Gemeinden, Kreisen und Bezirken – oft ohne demokratische Legitimation.
Für Familien wie die von der Schulenburg, die den preußischen Adel, den Offiziersstand und das agrarisch geprägte Bürgertum repräsentierten, bedeutete diese politische Entwicklung eine existentielle Bedrohung. Bereits im September 1945 wurde durch den kommunistisch dominierten Provinzialpräsidenten der „Verordnung zur Bodenreform“ erlassen, die zur entschädigungslosen Enteignung aller landwirtschaftlichen Großbetriebe über 100 ha führte. Diese Maßnahmen zielten nicht nur auf die wirtschaftliche Umverteilung, sondern waren auch politisch-ideologische Machtdemonstrationen, um die als „feudal-junkerlich“ gebrandmarkten Familien zu entmachten und zu vertreiben.
Zugleich etablierte sich eine neue Verwaltungskultur, geprägt von Opportunismus, Denunziation und ideologischer Linientreue. Ehemalige Gegner des NS-Regimes wie Sigurd von der Schulenburg, die eine konservativ-christliche, monarchietreue Haltung vertraten, fanden sich plötzlich unter Generalverdacht wieder – nicht wegen ihrer Haltung zum Nationalsozialismus, sondern weil sie nicht in das Bild der neuen Klassenordnung passten. In den Tagebüchern Sigurds ist diese Entwicklung spürbar: die zunehmende Unsicherheit, das Misstrauen gegenüber kommunistisch gesinnten Nachbarn und ehemaligen Weggefährten, die Angst vor „Ausweisung“, „Organisieren“, „Verschleppung“ und der Verlust jeder rechtlichen Handhabe.
Diese Phase war nicht nur von der physischen Verwüstung durch den Krieg geprägt, sondern auch von einer radikalen ideologischen Neuordnung der politischen Landschaft. Die früh einsetzende kommunistische Herrschaft in der sowjetischen Besatzungszone – lange vor Gründung der DDR – bedeutete für viele traditionsgebundene Familien den Anfang vom Ende ihrer gesellschaftlichen Rolle. Das „politische Leben“ bestand daher in weiten Teilen nicht mehr aus Partizipation, sondern aus Anpassung, Rückzug oder innerem Widerstand – und der Hoffnung, dass sich die Machtverhältnisse noch einmal ändern würden.
Diese Entwicklung war für konservative Eliten wie Sigurd von der Schulenburg ein politischer und persönlicher Schock. Er beobachtete die Veränderungen mit wachsender Sorge und kommentierte sie scharf in seinem 'Kriegstagebuch'.
Schon früh erkennt er die politische Instrumentalisierung der Bodenreform:
„Zur allem sonstigen Ungemach kam um den 10. September die geradezu wahnwitzige ‚Enteignungsverordnung‘ des Präsidenten der Provinz Sachsen auf Befehl der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und unter Assistenz der Sowjetischen Besatzungsmacht […]“
„Hier sitzt der Hase im Pfeffer!“ (10.09.1945)
Sigurd sieht darin nicht nur einen Angriff auf sein Eigentum, sondern auf das ganze rechtliche Gefüge Deutschlands:
„Dies ist wieder einmal ein Tiefpunkt in der deutschen inneren Politik, die Gesetz und Recht im selben Maße außer Acht lässt, wie die Nazis in ihren schlimmsten Taten.“ (10.10.1945)
Er verurteilt dabei ausdrücklich die deutsche Mitwirkung an diesem Prozess, insbesondere durch ehemalige Vertraute:
„Es ist leider auch hier wieder so: der Deutsche ist der ärgste Feind des Deutschen!“ (10.09.1945)
Gleichzeitig nimmt er wahr, dass politische Ämter gezielt mit linientreuen Kadern besetzt werden:
„Dannenberg [wird] als Bürgermeister eingeführt, […] drinnen wartete der russische Kommandant mit Begleitung.“ (13.07.1945)
Die frühere Welt der Beamtenpflicht, wie sie sein Vater noch verkörperte, erscheint ihm durchsetzt von Opportunismus und Machtgier:
„Ein Jude als Landrat ist immerhin eine Neuheit […], aber man hatte den Eindruck, einen Fremdling vor sich zu haben, dem man nicht recht zutraute, unsere Interessen wahrherzig zu vertreten.“ (08.08.1945)
(Hier schwingt antisemitisches Misstrauen mit, typisch für den Adel der Zeit, der sich trotz Hitler von der Moderne entfremdet fühlte.)
Er macht sich keine Illusionen über die Wirkung sowjetischer Strafandrohungen gegen Gewalttaten und Plünderung:
„Dass sie Strafen gegen Plünderer und Gewalttat verhängt, ändert nichts an der Tatsache, dass sie weit entfernt ist, sich im Großen damit durchzusetzen.“ (28.07.1945)
Gleichzeitig durchzieht das Tagebuch der Versuch, die Entwicklungen religiös zu deuten:
„Denn es ist die Lebensbedingung des deutschen Volkes wiederhergestellt – nämlich die Verbundenheit mit dem Schöpfer und Weltenbeherrscher, die unter Adolf Hitler und seiner ‚Rotte Kora‘ abgerissen war.“ (21.05.1945)
Der politische Umbruch ist für ihn nicht nur staatlicher Wandel, sondern eine existenzielle Krise des Glaubens und der Moral. Die Vertreibung, Enteignung und Entrechtung sieht er nicht als individuelles Unglück, sondern als Gottesprüfung an ein Volk, das sich verirrt habe – erst im Nationalsozialismus, nun im Kommunismus.