Zusammenfassend lässt sich sagen: Das wirtschaftliche Leben in Mitteldeutschland 1945 war geprägt von Mangel, Improvisation und politisch gesteuertem Umbruch. Die traditionelle Agrarstruktur wurde aufgelöst, ohne dass ein stabiles neues System bereits funktionierte. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 lag die deutsche Wirtschaft weitgehend am Boden: Verkehrswege waren zerstört, Versorgungsketten unterbrochen, Währungs- und Preissysteme kollabiert, und in der Landwirtschaft herrschte akute Personalnot. Die zentrale Industrieproduktion war zusammengebrochen, die Städte waren vielfach ausgebrannt – und auf dem Land fehlten Arbeitskräfte, Maschinen, Zugtiere und Treibstoff.
In dieser Zwischenzeit lebten viele – wie Sigurd Graf von der Schulenburg – zwischen Wiederaufbauwillen und Enteignungsbedrohung, zwischen Selbstversorgung und staatlich kontrollierter Umverteilung. Es war eine Phase des wirtschaftlichen Ausnahmezustands – mit weitreichenden Folgen für Eigentum, Arbeit und Lebenssicherheit.
Mangelnde Güterversorgung
Parallel dazu war die Güterversorgung katastrophal. Viele landwirtschaftliche Betriebe konnten weder Saatgut noch Düngemittel organisieren, und die Erträge wurden durch Zwangsabgaben, Besatzungsschäden oder fehlende Erntelogistik weiter geschmälert. Zugleich verlangte die sowjetische Militäradministration Reparationen in Form von Naturalien, Maschinen, Gebäuden und Industrieanlagen. Ganze Betriebe wurden demontiert und in die Sowjetunion abtransportiert. Die Währungsentwertung und das Fehlen eines funktionierenden Marktes führten zu einer weit verbreiteten Tausch- und Schattenwirtschaft, in der „organisieren“ – also das heimliche Beschaffen von Waren – zur Überlebensstrategie wurde. Wie Sigurd festhält:
„Ein anderer (Russe) tauschte fünf Uhren, die kaputt wären, gegen eine ganze ein; sie brauchten aber nur aufgezogen zu werden.“
Oder ironischer: „Was sind das überhaupt für Kinder!“ schreibt er über russische Soldaten, die Fahrräder gegen solche mit Klingel tauschten, oder einen Wecker mit Maschinenpistole zerschossen, weil er plötzlich „weckte“.
Arbeitskräftemangel
Im Tagebuch Sigurds wird dieser Umbruch deutlich: Die Wirtschaftsführung auf dem Gut war kaum noch möglich, da Arbeitskräfte fehlten (viele Männer waren gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft), Werkzeuge gestohlen oder zerstört waren, und die alten Verwaltungsstrukturen verschwunden.
Die größte Herausforderung liegt im akuten Mangel an verlässlichen Arbeitskräften:
„Der Einschlag ruht einstweilen, weil kein oder vielmehr vorläufig nur ein Mann, der eben aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist (Wiedemann), zur Verfügung steht.“ (30. Juni 1945)
Die Nachfrage nach Brennholz steht in krassem Missverhältnis zur verfügbaren Arbeitskraft:
„Die Leute laufen Bamme die Bude ein; so dass wir uns, um zunächst der gröbsten Not abzuhelfen, entschlossen haben, Grubenholz als Brennholz abzugeben […]“
Seine Versuche, Holzverkäufe zu organisieren, Brände zu versichern, Baumaßnahmen zu koordinieren oder Betriebsmittel zu beschaffen, standen stets im Spannungsfeld zwischen bürokratischer Willkür, politischer Unsicherheit und materieller Not. Zugleich zeigt sich die Verzweiflung darüber, dass unter den neuen kommunistischen Verwaltungsstrukturen nicht Leistung, sondern Gesinnung über Eigentum und Einfluss entschieden.
Zerstörungen und Bauschäden
Ein zentraler wirtschaftlicher Rückschlag ist die Zerstörung des großen Stalls in Ellersell, der kurz zuvor mit einem neuen Dach versehen worden war:
„Der empfindlichste Schaden, der meinem Besitztum angetan ist, ist das Niederbrennen, vielmehr Ausbrennen des eben erst mit einem neuen Dach versehenen großen Stalls in Ellersell infolge Beschusses durch Artillerie wegen der verrückten hier überall aufflackernden Verteidigung.“ (30. Juni 1945)
Auch auf dem Schlosshof kam es zu einem weiteren Schaden:
„Außerdem ist durch Spielen von Kindern mit Pulver hier auf dem Schlosshof eine Scheune […] abgebrannt.“
Für den Wiederaufbau des Stalls nimmt er Verbindung zum Landrat und zum Baumeister Sachse auf, stellt aber klar, dass er das benötigte Bauholz selbst liefern muss – ein Hinweis auf die eingeschränkte Verfügbarkeit öffentlicher Hilfe.
Verlust der Betriebskontrolle
Eine bittere Erfahrung ist das Verhalten des bisherigen Vertreters im Forstbereich:
„Förster Schrader […] ist mit wehenden Fahnen nach Heinrichshorst übergesiedelt, ohne mich nach meiner Rückkehr auch nur hier von zu unterrichten und mir Bericht über meine Forst zu erstatten.“
Auch ein späterer Vertrauter, Saarkampf, wird zur Belastung. Nach der Enteignung erklärt er sich bereitwillig als Treuhänder, was Sigurd als Verrat empfindet:
„Mossio Saarkampf [hat sich] zur Verfügung gestellt, nachdem er mir die ‚Treue‘ gebrochen hatte. Treffend bemerkt Bamme: Einen grünen Rock wollte er sich anziehen und einen roten hat er angezogen.“ (26. September 1945)
Verfall der Infrastruktur
Zudem fehlt es an funktionierender Infrastruktur. Die Eisenbahnverbindungen sind unzuverlässig:
„Die Bahn verkehrt nur in sehr bescheidenem Maßstab, höchstens […] 1 Zug in jeder Richtung.“
Post- und Kommunikationsmittel sind ebenfalls eingeschränkt:
„Auch die Post ist nur in bescheidenstem Umfang […] eröffnet. So ruht also das Geschäftsleben, Verkehr mit Bank, Rechtsanwalt, Steuerbehörde – und Berater noch ganz.“
Dennoch versucht Schulenburg, sein wirtschaftliches Handeln zu dokumentieren – etwa durch das Führen eines Kassenbuchs, Versicherungsfragen oder landwirtschaftliche Aufgaben wie:
„Große Kartoffelschlacht im alten Hof zu 8 Personen, ca. 40 Ztr.“ (6. Oktober)
Bodenreform
In den ländlichen Gebieten der sowjetischen Besatzungszone, zu der auch Angern in der Provinz Sachsen gehörte, war das wirtschaftliche Leben zunächst geprägt von Selbsthilfe, Subsistenzwirtschaft und der Hoffnung auf Wiederherstellung von Eigentumsverhältnissen. Doch diese Hoffnung zerschlug sich bald. Unter sowjetischer Aufsicht begann im Sommer 1945 eine systematische Umstrukturierung der ländlichen Ökonomie: Die sogenannte Bodenreform, beschlossen im September 1945, enteignete ohne Entschädigung alle Großgrundbesitzer mit mehr als 100 Hektar Land. Die Flächen wurden an landarme Bauern, Flüchtlinge und sogenannte „Neubauern“ verteilt oder in spätere Volkseigene Güter überführt. Auch Sigurd Graf von der Schulenburg wurde – wie aus seinem Tagebuch hervorgeht – in dieser Reform als „Feudaljunker“ enteignet, obwohl er kein Unterstützer des Nationalsozialismus war.
„Angern wäre also nicht mehr in meinem Besitz, auch das Schloss nicht! Kommentar überflüssig.“ schreibt er am 10. Oktober 1945.
Die Enteignung traf nicht nur seinen Besitz, sondern auch seine Würde – und mit ihr das Selbstverständnis einer ganzen sozialen Schicht.