„Von Bullen, Boten und Bauernpflicht“ – Ein Gutsherrschaftlicher Vergleich aus Angern anno 1563. Die Quelle Rep. H Angern Nr. 271 des Gutsarchivs Angern dokumentiert einen gerichtlichen Vergleich aus dem Jahr 1563, der zwischen den Brüdern „kurzer“ und „langer“ Busse von der Schulenburg – grundherrlichen Vettern in Angern – und der dortigen Gemeinde geschlossen wurde. In einem außergewöhnlich dichten Regelwerk wird nicht nur ein konkreter Konflikt beigelegt, sondern zugleich ein Einblick in das Gefüge altmärkischer Gutsherrschaft, bäuerlicher Pflichten und obrigkeitlicher Vermittlung ermöglicht. Das Dokument illustriert auf exemplarische Weise den Übergang von spätmittelalterlichen zu frühneuzeitlichen Herrschaftsformen im ländlichen Brandenburg.
Der Anlass: Mastbullen und Ungehorsam
Im Zentrum der Auseinandersetzung stand ein konkreter Vorfall, der zugleich exemplarisch für die konflikthaften Schnittstellen zwischen grundherrlicher Kontrolle und bäuerlicher Eigeninteressen steht: Zwei Bullen, die als Masttiere zur Zucht vorgesehen waren, waren der Gemeinde abgenommen worden. Der Junker Kurtze Busse von der Schulenburg warf der Dorfgemeinde Angern vor, sich dieser Tiere unrechtmäßig bemächtigt zu haben – „auf angezo Vorwirt Ungehorsams“ –, und damit nicht nur einen Akt des Widerstands gegen seine Herrschaft begangen, sondern zugleich einen wirtschaftlichen Schaden verursacht zu haben, indem die Mast und damit der Bestand der Viehwirtschaft beeinträchtigt wurde. Aus der Formulierung der Quelle geht hervor, dass die Bullen nicht einfach nur aus dem herrschaftlichen Besitz entwendet worden waren, sondern dass ihre Haltung durch die Gemeinde als eine Art passiver Widerstand oder demonstrativer Ungehorsam verstanden werden konnte. Die Haltung von Mastbullen war ein ökonomisch und symbolisch relevanter Akt: Sie bedeutete Kontrolle über Fortpflanzung, Fleischversorgung und Marktverwertung. Entsprechend hart reagierte der Grundherr.
Der daraus entstandene Streit war offenbar so eskaliert, dass sich beide Seiten – Gemeinde wie Junker – zur Klärung an die erzstiftische Obrigkeit wandten. Im Zentrum des folgenden Vergleichs steht die Rückgabe eines der Bullen und die finanzielle Entschädigung für den anderen, wobei zugleich Regelungen über Naturalabgaben, Frondienste und weitere Verpflichtungen getroffen wurden. Der Einzelfall wurde somit zum Auslöser einer umfassenden Neuverhandlung der lokalen Rechts- und Dienstverhältnisse.
Die Bussen von der Schulenburg: Genealogische Einordnung
Die in der Quelle von 1563 genannten „kurze“ und „lange Busse von der Schulenburg“ lassen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit genealogisch zwei unterschiedlichen Linien der Familie von der Schulenburg zuordnen, die seit dem 15. Jahrhundert gemeinschaftlich an der Verwaltung des Gutes Angern beteiligt waren. Bei dem einen Busse handelt es sich vermutlich um einen Busso von der Schulenburg (Nr. 349 im Stammbuch), der 1568 urkundlich erwähnt wird und Sohn des Joachim III. war, Erbsasse auf der Haselhorst bei Sandau aus dem schwarzen Stamm der Linie Klötze. Der andere Busse dürfte Busso VI. von der Schulenburg (1550–1605) gewesen sein, Sohn von Hans VIII. († nach 1536), magdeburgischer Hauptmann zu Sandau, aus der älteren Linie des weißen Stammes, der zu dieser Zeit als Mitbesitzer des Gutes Angern bzw. Gut Vergunst auftritt.
Die Bezeichnung als „kurzer“ und „langer“ Busse diente der praktischen Unterscheidung gleichnamiger, gleichzeitig agierender Adliger innerhalb eines engeren Verwandtschafts- oder Besitznetzwerks – eine in Adelsfamilien der Frühen Neuzeit verbreitete Praxis. Die Tatsache, dass im Vergleich von 1563 zwei gleichnamige Personen mit nachweisbarer Herrschaftsbeteiligung auftreten, legt nahe, dass es sich um eine zwischenlineare Kooperation oder Auseinandersetzung innerhalb der Familie handelte. Der Vergleich selbst, vermittelt durch eine übergeordnete Instanz, dürfte daher nicht nur die Gemeinde und den Grundherrn betroffen haben, sondern auch die interne Koordination oder Abgrenzung zwischen der weißen und schwarzen Linie der Familie von der Schulenburg. Dies ist umso plausibler, als die Besitzgeschichte von Angern-Vergunst mehrfach Phasen der Aufteilung, Rückführung und Konsolidierung über Liniengrenzen hinweg durchlief. Diese Form des gemeinschaftlichen Besitzes und der mehrfachen Mitbelehnung war in der altmärkischen Adelslandschaft durchaus üblich und führte nicht selten zu innerfamiliären Abstimmungsprozessen, wie sie möglicherweise auch in der Quelle von 1563 eine Rolle spielten.
Dienstregelungen als Herrschaftsinstrument
Besonders aufschlussreich sind die Bestimmungen zu den Frondiensten, die in dieser Quelle ungewöhnlich detailliert geregelt werden:
„Die Gemeine zu Angern [ist] schuldig […] jeder Wooche durchs Jahr zween Tage und aber in der Erntezeit von Petri und Pauli an bis auf Bartholomei die Woche drei Tage zu Hofe […] zu dienen.“
Zugleich wurde den Bauern im Winter eine Erleichterung eingeräumt:
„Winterszeit acht Diensttage dergestalt abgekürzet und erlassen […], daß ein jeder 8 Wochen lang nicht mehr als einen Tag die Woche hofdiensten dürfe.“
Hier zeigt sich der Versuch, bäuerliche Arbeitskraft effizient und zugleich sozialverträglich zu organisieren. Solche Dienststaffelungen waren typisch für die altmärkische Gutswirtschaft im 16. Jahrhundert, deren Fronstruktur sich an den jahreszeitlichen Bedürfnissen des Herrenhofs orientierte. Auch Holz- und Kornfuhren wurden ausdrücklich geregelt:
„Wann 6 (Schock) von der Schulenburg Grund und Boden Holz gefället und abgefahren, [ist dies] mit begriffen […] und von dem Hofdienste abgezogen.“
Diese Passage belegt die Integration verschiedener Dienstformen in ein Gesamtarbeitsvolumen – ein für die vorabsolutistische Gutsherrschaft typisches Merkmal.
Ökonomische Kompensation und soziale Kontrolle
Ein bemerkenswerter Zug ist die monetäre Abgeltung bestimmter Leistungen, etwa bei Botendiensten:
„[Wenn] die von der Schulenburg ihre Botschaft verschicken wollen, so sollen sie für eine jede Meile Weges acht Pfennig zu geben schuldig sein.“
Solche Regelungen zeugen von einem schrittweisen Übergang zu geldwirtschaftlicher Kompensation, ohne dass das grundherrliche Dienstregime in Frage gestellt wurde. Noch nicht aufgelöste Herrschaftsverhältnisse wurden so partiell flexibilisiert. Zugleich wurde die Rückgabe unrechtmäßig konfiszierter Tiere und Geräte geregelt, ebenso die Freilassung von Gefangenen:
„[Er] soll und will ihnen solches alles wiedergeben, die Schafe aber ihnen vor vier Taler zahlen, so soll auch der […] Gefangene zu Wolmirstedt ohne Entgelt und […] losgegeben werden.“
Hier spiegelt sich eine der zentralen Spannungen der Frühneuzeit: Die Ambivalenz zwischen obrigkeitlicher Strafgewalt und obrigkeitlich vermittelter Einigung.
Sozialtopografie der Untertanen – Schichtung, Funktion und Abgabenpflicht
Der Vergleich von 1563 wird im Anhang durch ein „Register und Anschlag des Guts zu Angern“ ergänzt, das nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Strukturen innerhalb der ländlichen Bevölkerung dokumentiert. Diese Liste offenbart eine klar ausgebildete Sozialtopografie, wie sie für die brandenburgische Gutsherrschaft der frühen Neuzeit charakteristisch ist. Die Einteilung der Untertanen erfolgt funktional nach Besitzgröße, Arbeitsleistung und Abgabelast – und spiegelt zugleich die soziale Hierarchie innerhalb der Dorfgemeinde.
An oberster Stelle erscheinen die Ackerleute, namentlich Caspar Rappen und Jacob Heinicke. Sie werden als Vollbauern mit eigenem Gespann geführt:
„Mide allem rechte dient alle Wochen zwei Tage mide Pfluch und Wagen, gibt 1 Wispel Roggen, 1 Wispel Gerste, 1 Wispel Hafer, 5 Hühner.“
Diese Personen verfügen über wirtschaftlich voll ausgestattete Hufenstellen und sind damit das Rückgrat der bäuerlichen Produktion. Ihre Frondienste (zwei Tage pro Woche) und Abgaben (drei Wispel Getreide jährlich) belegen eine hohe Integration in die naturalwirtschaftliche Ordnung des Gutsbetriebs.
Unterhalb dieser Gruppe treten die Kossaten in Erscheinung. Simon Vinzelberg, exemplarisch genannt, muss in der Erntezeit mit dem Pflug sechs Tage dienen, das restliche Jahr über zwei Tage „mit den Händen“, also zu Fuß oder ohne Gespann. Auch seine Abgaben sind umfangreich:
„11 Scheffel Roggen […] Hühner und Gänse.“
Der Kossat besitzt typischerweise nur ein kleines Haus und wenig oder gar kein eigenes Land. Er ist auf Tagelöhnerarbeit oder verminderte bäuerliche Tätigkeit angewiesen und unterliegt einer Frondienstpflicht, die qualitativ unter jener der Ackerleute liegt. Dies verweist auf ein ständisch und wirtschaftlich abgestuftes Fronmodell, das in der altmärkischen Gutsherrschaft bis ins 18. Jahrhundert erhalten blieb.
Darüber hinaus erscheinen spezialisierte Berufsgruppen wie der Müller (Matthieß Sch…de) und der Krüger. Der Müller leistet keine Dienste, sondern liefert jährlich „3 Wispel Roggen“. Der Krug hingegen gibt offenbar Hirse als Sonderabgabe. Diese Personen stehen außerhalb des regulären Fronregimes und entrichten stattdessen Pacht in Form von Naturalien – ein Hinweis auf die teils frühkapitalistische Sonderstellung gewerblicher Tätigkeiten innerhalb des dörflichen Gesamtgefüges.
Die Quelle illustriert damit eine fein abgestufte soziale Differenzierung innerhalb der Untertanenschaft. Diese war nicht nur durch Besitzunterschiede geprägt, sondern auch durch unterschiedliche Abgabenmodi, Pflichten gegenüber dem Hof, Mobilität und Rechtsstatus. Soziale Ungleichheit wurde hier nicht nur akzeptiert, sondern normativ durch das herrschaftliche Ordnungssystem reproduziert. Die Herrschaft der von der Schulenburg wirkte in alle Schichten hinein – jedoch mit differenzierter Zugriffstiefe und spezifischer Funktionalisierung.
Begriffsgeschichte zentraler Termini
Die Quelle verwendet mehrere zentrale Termini, die im frühneuzeitlichen Kontext rechtlich und sozial spezifisch aufgeladen waren. Die Bezeichnung der Dorfgemeinschaft als „Gemeine“ verweist auf eine rechtlich anerkannte Kollektivstruktur. Es handelte sich um ein lokal verfasstes, gemeinschaftlich auftretendes Subjekt, das klage- und verhandlungsfähig war – ein Konzept, das sich spätestens seit dem Spätmittelalter im deutschsprachigen Raum etabliert hatte. Der Vorwurf des „Ungehorsams“ diente in der Herrschaftsrhetorik als moralischer Vorwurf, der über die reine Vertragsverletzung hinausging. Er zielte auf eine Verletzung sozialer Ordnungsvorstellungen, insbesondere der hierarchischen Pflichtenbindung zwischen Untertanen und Gutsherren. Der Begriff „Abschied“ schließlich verweist auf eine formalisierte Rechtsform im Sinne eines durch obrigkeitliche Vermittlung bestätigten Vergleichs – ein Instrument der Konfliktregelung unter Wahrung der geltenden Ordnung.
Regionale Vergleichsfälle: Gutsherrschaft in der Altmark
Ein Vergleich mit anderen bekannten Auseinandersetzungen zwischen Gutsherren und Gemeinden in der Altmark – etwa aus den Familienarchiven von Bismarck, Alvensleben oder Bartensleben – zeigt, dass Streitigkeiten über Frondienste, Viehhaltung oder Holznutzung keine Ausnahme waren. In vielen Fällen wurden ähnlich wie in Angern detaillierte Vergleiche geschlossen, z. B. in Kläden 1570 (Bismarck-Archiv), in Rogätz (Alvensleben-Archiv) oder in Zichtau. Was den Fall Angern besonders macht, ist die Kombination aus wechselseitiger Kompensation (z. B. Rückgabe eines Bullen gegen Wiederleistung), konkreter Dienststaffelung und obrigkeitlich beglaubigter Vermittlung. In dieser Form ist der Vergleich von 1563 eine herausragend dokumentierte Fallstudie für den intermediären Charakter der altmärkischen Gutsherrschaft.
Vermittlungsinstanz: Der Administrator als Schiedsrichter
Die Vermittlung durch „uns“ – gemeint ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Sigismund von Brandenburg als Administrator des Erzstifts Magdeburg – verweist auf die übergeordnete Autorität, der in Territorialkonflikten zwischen Gutsherren und Gemeinden eine zentrale Rolle zukam. Der Vergleich wurde ausdrücklich unter landesherrlicher Kontrolle geführt und mit Siegel und eigenhändiger Unterschrift auf der Moritzburg bei Halle ratifiziert. Dies zeigt: Die Landesherrschaft verstand sich nicht nur als militärisch-fiskalische Instanz, sondern auch als Garantin einer funktionierenden lokalen Ordnung. Die Bauern konnten sich mit ihren Beschwerden auf eine übergeordnete Rechtsinstanz berufen, was ihren Status als Rechtssubjekte weiter stärkte. Der Vergleich war somit Ausdruck obrigkeitlicher Herrschaft und institutionalisierter Konfliktlösung.
Mentalitätsgeschichtliche Perspektive
Die Quelle gewährt auch Einblicke in die Vorstellungen von Ordnung, Ehre und Reziprozität im ländlichen Raum der frühen Neuzeit. Die Rückgabe eines Bullen, die Kompensation für verlorene Tiere oder die Freilassung von Gefangenen waren mehr als rein ökonomische Vorgänge – sie dienten der Wiederherstellung sozialer Balance und symbolisierten die Wiederherstellung beschädigter Ordnung.
Besonders aussagekräftig ist die Passage zur Freilassung „der vier Gefangenen zu Wolmirstedt“. Diese war ausdrücklich „ohne Entgelt“ zugesagt – also ohne Lösegeld oder Sühneleistung. Das verweist auf eine Verschiebung von reiner Straflogik hin zu einer ausgeglichenen Konfliktregelung im Sinne von Gnade und sozialer Integration. Die Inhaftierung diente ursprünglich als Druckmittel zur Disziplinierung, wurde aber durch den Vergleich explizit beendet. Dies zeigt: Gefangenschaft war im frühneuzeitlichen Dorf nicht bloß eine rechtliche Konsequenz, sondern ein öffentliches Zeichen gestörter Ordnung – und ihre Aufhebung ein Akt symbolischer Versöhnung. Die Rede vom „Ungehorsam“ signalisiert dabei eine Vorstellung von sozialer Hierarchie, die durch moralische Verpflichtung und öffentliche Disziplinierung aufrechterhalten wurde. Zugleich zeigen die Zugeständnisse an die Bauern, dass auch die Gutsherrschaft an Normen der „Billigkeit“ und des Ausgleichs gebunden war – etwa in der Form der winterlichen Dienstreduktion, der Rückgabe beschlagnahmten Viehs oder der klaren Vergütung von Botenwegen.
Rechts- und Besitzverhältnisse: Grundherr vs. Gemeinde als Rechtsparteien
Der Vergleich von 1563 offenbart ein bemerkenswert formalisiertes Rechtsverhältnis zwischen der grundherrlichen Familie von der Schulenburg und der gesamten Gemeinde Angern. Beide Seiten treten in der Quelle ausdrücklich als kollektive Rechtssubjekte auf – auf der einen Seite „die Vettern […] von der Schulenburg“, auf der anderen „die Gemeine daselbst“. Diese Konstellation zeigt, dass die Dorfgemeinde in der frühen Neuzeit durchaus als organisierte und in Verhandlungen befähigte Körperschaft agierte. Ihre Mitglieder hatten offenbar gemeinsam Beschwerdepunkte formuliert und vorgetragen, die sodann Gegenstand eines offiziellen Vergleichs wurden. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass dieser Vergleich nicht einseitig durch die Grundherren diktiert wurde, sondern unter Vermittlung einer übergeordneten Autorität zustande kam – vermutlich Sigismund von Brandenburg als Administrator des Erzstifts Magdeburg. Diese obrigkeitliche Rahmung verlieh dem Vergleich bindenden Charakter und verhinderte ein rein autoritäres Durchregieren der Gutsherren.
So belegt das Dokument, dass Gutsherrschaft im 16. Jahrhundert nicht notwendigerweise auf Willkür beruhte, sondern sich in vielen Fällen auf reziproke Rechtsformen stützte, bei denen sich beide Parteien auf Vermittlung beriefen. Die Gemeinde erscheint hier nicht als bloßer Befehlsempfänger, sondern als verhandlungsfähiger Akteur.
Nachwirkung und Wandel
Obgleich die Vereinbarungen von 1563 detailliert waren, ist ihre Wirkung im späteren Verlauf nicht immer eindeutig dokumentiert. In den Quellen des 18. Jahrhunderts (z. B. Rep. H Nr. 336 und 412) werden die Frondienste in anderer Form geregelt – teils verschärft, teils durch geldliche Kompensation ersetzt. Es ist nicht klar, ob der Vergleich von 1563 explizit rezipiert wurde, doch die strukturelle Erinnerung an diesen Rechtsakt dürfte die lokalen Akteure noch lange geprägt haben.
Zudem verweist der Vergleich auf eine fortdauernde Praxis der Konfliktschlichtung durch Vergleich und Kommission, wie sie auch im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Besitzstreit um Vergunst oder im Rahmen der Kommassierung dokumentiert ist. Der sogenannte „Alt Hansens Teil“ des Guts Vergunst, benannt nach Hans XII. von der Schulenburg, verdankt sich einem Rückkaufvorgang im Jahr 1602. Dieser erfolgte durch Hans XII., Sohn von Busso VI. von der Schulenburg (1550–1601), nachdem letzterer zuvor 5/8 des Gutes durch Verschuldung verloren hatte. Der Vergleich von 1563 liegt damit gut vier Jahrzehnte vor dem Rückkauf, zeigt aber die frühe Phase jener internen Besitzverhältnisse, die später in der Bezeichnung „Alt Hansens Teil“ ihre genealogische Verfestigung erfuhren.
Gerade in diesem Zusammenhang lässt sich vermuten, dass der Vergleich von 1563 auch Ausdruck eines beginnenden strukturellen Spannungsfeldes innerhalb des Familienbesitzes war. Die detaillierte Regelung von Dienstpflichten, Kompensationen und Naturalabgaben verweist auf eine intensive Kontrolle der bäuerlichen Leistungen – ein Zeichen für ökonomischen Druck, der nicht nur auf Seiten der Bauern, sondern auch innerhalb des grundherrlichen Haushalts bestanden haben könnte. Es liegt nahe, dass die ökonomischen Belastungen, die später zum Teilverkauf unter Busso VI. führten, bereits in der Generation zuvor spürbar waren und mit einer Verschärfung der Gutsherrschaftslogik einhergingen.
Wichtig ist dabei: Busso VI., Vater von Hans XII., war zur Zeit des Vergleichs von 1563 erst etwa 13 Jahre alt und kann somit nicht einer der dort verhandelnden Parteien gewesen sein. Wahrscheinlicher ist, dass es sich bei den im Vergleich genannten „kurzen“ und „langen“ Busse um Mitglieder der älteren Generation handelte – vermutlich Busso IX. und Busso X. von der Schulenburg, die im mittleren 16. Jahrhundert nachweislich als Mitbelehnte des Gutes Angern fungierten. Die genealogische Linie, die später mit dem Rückkauf des Alt-Hansens-Teils verbunden wird, steht damit zwar nicht im Zentrum des Vergleichs, bildet jedoch dessen spätere Besitz- und Wirkungsgeschichte ab.
Kritische Edition der Quelle (Ausblick)
Eine vollständige diplomatische oder halbdiplomatische Edition der Vergleichsurkunde könnte die weitere Forschung erleichtern. Eine Edition sollte eine moderne Parallelübersetzung, gegebenenfalls Kommentierung der juristischen Begriffe und Verweise auf Parallelstellen in der Altmark enthalten. Zugleich könnte eine digitale Edition mit Regest, Ortsregister und sozialtopografischer Zuordnung der namentlich genannten Personen zur Rekonstruktion der lokalen Gemeindestruktur beitragen.
Gegenwartsvergleich: Wie würde ein solcher Konflikt heute geregelt?
Ein Fall wie der von 1563 würde in der heutigen Bundesrepublik Deutschland unter völlig anderen rechtlichen Rahmenbedingungen verhandelt werden. Der damalige Vergleich zwischen Gutsherren und Gemeinde beruhte auf einem asymmetrischen Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen und wurde durch landesherrliche Instanzen vermittelt. Heute sind alle Beteiligten – ob private Eigentümer, Betriebe oder Gemeinden – juristisch gleichgestellt.
Ein Streit um Eigentum an Tieren würde dem Zivilrecht unterliegen (§§ 823 ff. BGB), ein unrechtmäßiger Zugriff könnte strafrechtlich als Diebstahl (§ 242 StGB) verfolgt werden. Arbeitsleistungen dürften ausschließlich auf Grundlage von freiwilligen Arbeitsverhältnissen oder vertraglicher Regelungen erbracht werden – Frondienste wären unzulässig. Eine Einbehaltung von Vieh oder gar die Gefangensetzung von Personen zur Erzwingung von Leistungen würde als schwere Rechtsverletzung geahndet. Konflikte würden entweder durch gerichtliche Klage (Amtsgericht, Verwaltungsgericht) oder außergerichtlich durch Mediation oder Schiedsverfahren geklärt. Der gesamte Vorgang wäre dabei an rechtsstaatliche Verfahren, das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden.
Was 1563 durch persönliche Vermittlung, symbolische Akte wie Rückgaben und durch ein normatives Gefüge von „Ehre“ und „Billigkeit“ geregelt wurde, würde heute unter dem Primat von Vertragsrecht, Gleichheitsgrundsatz und Rechtsweg behandelt. Der Fall Angern ist damit nicht nur ein Zeugnis vormoderner Herrschaft, sondern auch ein Kontrastbild zur modernen Rechtsstaatlichkeit.
Abschließende Einordnung
Die Quelle Rep. H Angern Nr. 271 illustriert eindrucksvoll, wie Gutsherrschaft in der Altmark Mitte des 16. Jahrhunderts organisiert war: als ein personalisiertes, durch Normen und Gegenseitigkeit strukturiertes Verhältnis. Der Vergleich wurde unter landesherrlicher Aufsicht formuliert – vermutlich durch Sigismund von Brandenburg als Administrator des Erzstifts Magdeburg – und zielte auf eine gütliche Einigung, die Rechte und Pflichten beider Seiten dauerhaft fixierte. Die abschließende Passage verweist auf noch offene Beschwerdepunkte und deren geplante Untersuchung durch Kommissare:
„Wollen wir hierzu förderlichst Commissarien verordnen […] und alsdann […] darauf eine rechtmäßigen, billigen Bescheid geben.“
Damit wird deutlich: Der Vergleich von 1563 war keine Endlösung, sondern Teil eines kontinuierlichen Aushandlungsprozesses zwischen Herrschaft und Gemeinde. In seiner Verrechtlichung und schriftlichen Fixierung stellt das Dokument ein typisches Beispiel für die gerichtlich vermittelten Kontrakte der frühmodernen Gutsherrschaft dar – nicht zuletzt als Ausdruck der beginnenden Schriftkultur auf der lokalen Ebene.
Quellen
Die vorliegende Darstellung stützt sich auf eine Transkription durch die Angerner Dorfchronistin Brigitte Kofahl, deren Arbeiten eine wichtige Grundlage für die Erschließung des Gutsarchivs bilden.
- Czubatynski, Uwe: Gutsherrschaft in Brandenburg. Studien zur Sozialgeschichte der frühen Neuzeit, Potsdam 1996.
- Lutz, Dieter: Bäuerliche Gesellschaft in Brandenburg im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 1983.
- Brakensiek, Stefan: Grundherrschaft und Disziplinierung. Herrschaftsverhältnisse in ländlichen Gesellschaften der Frühen Neuzeit, Göttingen 1997.
- Knauth, Joachim (Hg.): Altmärkische Dorfvergleiche und Bauerngerichte im 16. Jahrhundert, Magdeburg 1985.
- Scott, James C.: The Moral Economy of the Peasant, New Haven/London 1976.