Konflikte, Jurisdiktion und Konsolidierung: Das Dokument REP H Nr. 108 (1735) im Kontext der Besitzverhältnisse zu Angern und Angern-Vergunst: Das Jahr 1735 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Ritterguts Angern: Mit dem Ankauf des verschuldeten Besitzes durch Generalleutnant Christoph Daniel Freiherr von der Schulenburg begann nicht nur ein baulicher Neuanfang, sondern auch eine politisch-rechtliche Konsolidierung der weitverzweigten Besitzverhältnisse. Das im Gutsarchiv Angern erhaltene Dokument Rep H Nr. 108 dokumentiert die zahlreichen Differenzen zwischen den beiden Linien des Hauses Schulenburg – Angern und Angern-Vergunst – und erlaubt einen tiefen Einblick in die juristischen, agrarischen und wirtschaftlichen Streitfragen des frühabsolutistischen Landadels.
Im Jahr 1735 war Adolf Friedrich Reichsgraf von der Schulenburg Herr des Ritterguts Angern-Vergunst, das zum älteren Zweig der sogenannten weißen Linie der Familie von der Schulenburg gehörte. Ihm stand damit der westlich vom Dorf gelegene Teil des Gesamtkomplexes zu, einschließlich eigener Wirtschaftsflächen, Untertanen und Gerichtsbarkeit. Die im selben Jahr dokumentierten Konflikte mit seinem jüngeren Vetter Christoph Daniel Freiherr von der Schulenburg, der das benachbarte Gut Angern führte, entsprangen dieser geteilten Besitzstruktur. Adolf Friedrichs Verwaltung, insbesondere durch seinen Amtmann, wurde von Christoph Daniel mehrfach wegen eigenmächtiger Maßnahmen kritisiert. Drei Jahre später, 1738, verkaufte Adolf Friedrich das gesamte Gut Angern-Vergunst samt zugehörigen Dörfern an Christoph Daniel, der damit die jahrzehntelange Fragmentierung beendete und das gesamte Territorium unter seiner Hand vereinte.
Das Dokument REP H Nr. 108 (1735) lässt sich als strategisches Schriftstück zur Konfliktregulierung lesen und bietet über die offensichtlichen Streitpunkte hinaus wertvolle Einblicke in verschiedene sozialgeschichtliche, wirtschaftliche und rechtliche Aspekte des ländlichen Adelsgutswesens im frühen 18. Jahrhundert.
Geteilte Gutsherrschaft als Strukturproblem: Die Quelle belegt anschaulich, wie zersplitterte Besitzverhältnisse (Angern und Angern-Vergunst als eigenständige, aber topographisch und wirtschaftlich verwobene Einheiten) zu dauerhaften Konflikten führten – über Äcker, Hutung, Gerichtsbarkeit, Kirchenpatronat und Infrastruktur. Es wird deutlich, dass kollektive Nutzung bei zugleich getrennter Verwaltung institutionell instabil war und dauerhaft zu Spannungen führte.
Juristische Streitpunkte: Gerichtshoheit und lokale Macht
Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht die Frage der Gerichtsbarkeit, insbesondere über Untertanen, Schäfer und Wirtschaftsflächen. Christoph Daniel beklagt die eigenmächtigen Handlungen des Amtmanns von Angern-Vergunst, der ohne Rücksprache mit seinem Prinzipal Pfändungen, Geldstrafen und sogar Zwangsarbeiten verordnet habe – etwa für den Untertan Daniel Wienecken, der wegen einer Gans mit zwölf Groschen belegt wurde und in Haft genommen werden sollte¹. Diese Eingriffe verletzten die als gemeinsam verstandenen jura communia und unterliefen die Autorität des Herrn von Angern.
Die Gegenseite verteidigt sich mit dem Hinweis, der Amtmann habe nach Notwendigkeit gehandelt. Gleichwohl wird eingeräumt, dass Prozesse künftig nicht mehr ohne Rücksprache mit den Prinzipalen eingeleitet werden sollen². Die Formulierung eines Status quo zeigt hier deutlich den Versuch, Gewalten zu ordnen und künftige Eskalationen zu verhindern.
Rollenkonflikte der Amtleute: Die wiederholten Klagen über den Amtmann von Angern-Vergunst zeigen exemplarisch die problematische Rolle von Verwaltern ohne klare Weisungstreue. Sie erscheinen als selbstherrlich handelnde Instanzen zwischen Untertanen und Prinzipalen. Ihre Handlungen werden nicht als dienend, sondern als eigenmächtig wahrgenommen, was zu strukturellem Misstrauen führt.
Frühmoderne Verwaltungskultur: Die Sprache und Vorschläge zeigen, dass Christoph Daniel bereits in einer bürokratisierten Verwaltungskultur denkt: Er fordert Registrierung, Neuvermessung, Markierung mit Malsteinen, geregelte Kompetenzen und rechtlich verankerte Zuständigkeiten. Das Ziel ist eine präzise Abgrenzung und Rationalisierung adeliger Herrschaft in einem frühabsolutistischen Rahmen.
Ökonomische Spannungen: Acker, Weide und Jagd
Ein weiterer zentraler Konflikt betrifft die agrarische Nutzung: Mehrfach wird der illegale Anbau auf fremden Feldern und das „Abpflügen“ von Äckern durch Bauern aus Mittelstedten beklagt³. Christoph Daniel schlägt daher die Vermessung und Neuaufteilung der Flächen vor, inklusive der Markierung durch Malsteine und Grasraine⁴. Die Maßnahme ist Ausdruck des aufkommenden landwirtschaftlichen Rationalismus im frühmodernen Gutswesen und verweist auf das Ziel der Effizienzsteigerung durch Strukturreformen.
Auch das Viehaufkommen steht zur Debatte. Wegen Übernutzung der Weideflächen soll die Zahl an Melkkühen und sonstigem Vieh künftig zwischen den beiden Besitzern abgestimmt werden, ebenso sollen Grenzen für die Viehhaltung der Bauern festgelegt werden⁵. Die Regulierung der Viehbestände wird als Maßnahme zur Vermeidung „des Schadens der Weide“ begründet – ein typisches Argument in frühmodernen Weideordnungen.
Die Jagdrechte schließlich spiegeln die soziale Bedeutung des Adels als Landesherren. Beide Seiten einigen sich darauf, die kleine Jagd für drei Jahre zu schonen und nur begrenzt auszuüben. Die hohe Jagd bleibt ungeteilt, ein deutliches Zeichen für die symbolische Trennung zwischen Status und Nutzung⁶.
Vorform agrarischer Rationalisierung: Die Vorschläge zur Teilung der Äcker in gleichmäßige Breiten, zur Einzäunung der Wiesen, zur Regulierung der Weidezeiten und zur Viehzahlkontrolle deuten auf ein sich formierendes Denken in ökonomischer Nachhaltigkeit und Effizienz hin – Jahrzehnte vor der großflächigen Agrarreform. Christoph Daniel denkt bereits in Gutsbewirtschaftungssystemen, die auf Planung und Ertragssicherung abzielen.
Kirchenpatronat und soziale Infrastruktur
Auch religiöse Infrastruktur wird im Dokument behandelt: Das Patronatsrecht, das Kirchenstuhlrecht sowie die Ausstattung der Kirche werfen Fragen auf. Es wird vorgeschlagen, dass die Patronatspflichten und -rechte zwischen den Linien aufgeteilt oder wechselweise ausgeübt werden, auch im Blick auf künftige Predigernominierungen⁷. Dies zeigt, wie stark selbst sakrale Fragen im Spannungsfeld der Gutsinteressen verhandelt wurden.
Besonders bemerkenswert ist der Vorschlag zur Verknüpfung von Krämerei und Krugwirtschaft als gemeinsame Einrichtung der beiden Linien. Dies offenbart die ökonomischen Zwänge kleiner Herrschaftseinheiten, die sich gegen Konkurrenz absichern wollen, aber zugleich an Einnahmen aus Konsum und Handel interessiert sind⁸.
Kirchliche Macht als Herrschaftsmittel: Die Quelle belegt eindrucksvoll, dass Patronatsrechte, Kirchenstühle und die Mitwirkung bei der Predigerwahl für den Adel nicht bloß religiöse, sondern politisch-soziale Instrumente waren. Die Verhandlung über Sitzplätze in der Kirche ist Ausdruck symbolischer Herrschaft und demonstrativer Präsenz im sozialen Raum des Dorfes.
Vermittlungsversuche und Friedensabsicht
Um die fortwährenden Prozesse und Eskalationen zu beenden, wird die Einschaltung zweier hochrangiger Vermittler vorgeschlagen: des königlich-sardinischen Geheimrats von Conceji sowie des hochfürstlichen Braunschweigischen Schatzrats von Bartensieben⁹. Dieser Schritt ist Ausdruck der Versachlichung des Streits und der Einsicht, dass langwierige Gerichtsprozesse nicht im Sinne beider Parteien sind. Gleichzeitig verweist er auf den politischen Rang Christoph Daniels, der als sardischer General auf internationale Kontakte und Autorität zurückgreifen konnte.
Frühmoderne Konzeption von Konfliktlösung: Anstelle militärischer oder offener Konfrontation setzt Christoph Daniel auf ein vermitteltes Verfahren mit klaren Verfahrensregeln. Die Berufung auf hochrangige Vermittler (von Conceji, von Bartensieben) ist Ausdruck eines aristokratischen Standesbewusstseins und des Versuchs, Differenzen innerhalb des Standes zu lösen, ohne staatliche Eingriffe oder öffentliches Aufsehen.
Konflikte als Symptom dynastischer Konkurrenz: Indirekt legt die Quelle offen, wie stark sich der familiäre Anspruch auf Vorrang und „bessere Rechte“ in der konkreten Alltagspraxis manifestierte. Christoph Daniel versucht, seine Linie nicht nur durch Besitzkonsolidierung, sondern auch durch Normsetzung und politische Durchsetzungskraft als führend zu etablieren.
Fazit
Das Dokument Rep H Nr. 108 bietet einen dichten Einblick in die Besitzstruktur, Verwaltungsprobleme und Sozialökonomie eines geteilten Ritterguts im 18. Jahrhundert. Es markiert einen Übergang von feudaler Unübersichtlichkeit zu einem rationalisierten, einheitlich geführten Gutskomplex unter Christoph Daniel von der Schulenburg. In ihm bündeln sich frühe Elemente der Agrarreform, ordnungspolitische Maßnahmen und herrschaftlicher Wille zur Stabilität – ein Beispiel für adlige Selbstbehauptung durch Verwaltungsmodernisierung.
Fußnoten
Dieses Dokument wurde auf Grundlage einer Transkription der Dorfchronistin Brigitte Kofahl erstellt.
- REP H Angern Nr. 108, Angern 1735, Bl. 7r: „wegen einer Gans, so im vorigen Sommer auf die Saat gelaufen, 12 gr. Strafe […] habe beystecken lassen wollen“.
- Ebda., Bl. 3v: „[…] daß künftighin beide Amtsleute von allen etwa kommenden Zwistigkeiten erst an die Herren Prinzipalen berichten müssen“.
- Ebda., Bl. 2r: „[…] ein Bauer Mittelstedten eben solches arriviret, indem selbigen an die drei Fuhren abgepflügt worden“.
- Ebda., Bl. 5r: „[…] durch Teilung die Äcker in ordentliche Breiten zu bringen und Malsteine zu setzen“.
- Ebda., Bl. 8r: „[…] wieviel Vieh und Melk-Kühe auf jedem Gute sollten gehalten werden […] weilen viele unter selbigen vorhanden, sie zu viel Vieh halten“.
- Ebda., Bl. 6r: „[…] kleine Jagd auf 3 Jahre von beiden Seiten geschont […] die hohe Jagd bleibt ungeteilt“.
- Ebda., Bl. 6v: „[…] bei Nominierung des Predigers sich abzuwechseln […] Resolution des Herrn Generalleutnants einzuholen“.
- Ebda., Bl. 6r: „[…] die Krämerei mit dem Krug kombinieren und sollen beide Herrschaften sorgen, daß kein weiterer Krämer im Dorfe sich niederläßt“.
- Ebda., Bl. 9r: „[…] von Conceji und […] von Bartensieben zu Wolfsburg als Vermittler benennen“.