Im Nordosten der zweiten Insel erhob sich ein massiver, quadratischer Turm mit einer Grundfläche von etwa 10 × 10 Metern. Seine acht Geschosse machten ihn zum dominanten Element der früheren Wehranlage. Die Höhenrekonstruktion des Bergfrieds der Burg Angern lässt sich auf Grundlage der bekannten Grundfläche und der Überlieferung von acht Stockwerken annähernd bestimmen. Typische hochmittelalterliche Bergfriede wiesen lichte Raumhöhen von etwa 3,0 bis 3,5 Metern auf, ergänzt um Decken- und Mauerstärken von circa 0,5 bis 0,7 Metern pro Geschoss. Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Geschosshöhe von etwa 3,5 bis 4,0 Metern. Multipliziert mit acht Etagen ergibt sich eine Turmhöhe von etwa 28 bis 32 Metern, zuzüglich der Höhenanteile für eine Wehrplatte, Brustwehr oder ein eventuelles Zeltdach. Somit dürfte der Bergfried von Angern eine Gesamthöhe von etwa 29 bis 34 Metern erreicht haben, vergleichbar mit anderen regionalen Anlagen wie dem Bergfried von Tangermünde oder Lenzen. Diese Rekonstruktion verdeutlicht die imposante Dominanz des Turmes innerhalb der Burganlage und seine zentrale Rolle im Verteidigungssystem.
Vereinfachte KI generierte Rekonstruktion des Bergfrieds der Burg Angern um 1340
Der Turm wurde im Jahr 1735 abgebrochen, nachdem er während des Dreißigjährigen Krieges schwer beschädigt wurde – insbesondere durch den Angriff des Holkschen Regiments. Die Funde menschlicher Überreste und Kriegsmaterial in der Nähe des heutigen Lustgartens verdeutlichen die blutigen Gefechte und die nachhaltigen Zerstörungen, die das Ortsbild von Angern prägten.
Der Aufbau eines solchen spätmittelalterlichen Bergfrieds folgte einem funktionalen Vertikalschema, das sowohl Wehr- als auch Repräsentations- und Lagerfunktionen integrierte. Das unterste Geschoss war meist ein massiv gemauerter, tonnengewölbter Raum mit äußerst begrenzter Belichtung. Dieser Raum war in der Regel nur schwer zugänglich, diente als Lagerraum, Notunterkunft oder Wehrkammer und war durch seine massive Bauweise besonders widerstandsfähig. Das erste Obergeschoss, ursprünglich über eine Außentreppe oder hölzerne Brücke erschlossen oder am wahrscheinlichsten über eine im Nebengebäude integrierte Treppe, bildete den Hauptzugang und diente als Wach- oder Wohnraum. Die mittleren Stockwerke enthielten weitere Kammern, möglicherweise mit Heiz- oder Kochstellen, während die oberen Geschosse der Fernsicht und Verteidigung vorbehalten waren. Dort befanden sich - wie auch in Angern - häufig Scharten oder – in späterer Nutzung – vergrößerte Fenster. Der Turm erfüllte damit zugleich militärische, wirtschaftliche und symbolische Funktionen und bildete den baulichen und herrschaftlichen Nukleus der Gesamtanlage. In der frühen Neuzeit wurden viele Bergfriede, so auch in Angern, baulich umgenutzt, wobei einzelne Geschosse mit Dielen ausgestattet oder zu Lagerräumen umgewidmet wurden.
Die Wasserburg weist mit ihrer separaten Turminsel eine bauliche Eigenheit auf, die in der mitteleuropäischen Burgenarchitektur des 14. Jahrhunderts als außergewöhnlich gelten kann. Der Zugang zum Bergfried erfolgte nicht direkt, sondern über die Hauptburginsel und war nur über eine schmale Zubrücke erreichbar. Die Anlage bestand zur Mitte des 14. Jahrhunderts aus drei klar getrennten Bereichen:
- der Vorburg mit Wirtschaftsgebäuden,
- der Hauptburginsel mit Palas und Wohngebäuden,
- und der Turminsel mit dem isolierten Bergfried.
Letzterer war durch einen Graben von der Hauptburg getrennt und nur über eine interne Brücke erreichbar. Hinweise hierzu liefert ein "Memoire" aus dem Jahr 1745, in dem General Christoph Daniel von der Schulenburg erwähnt, dass der heute noch vorhandene Graben zwischen Hauptburg und Turminsel nicht zugeschüttet wurde, sondern erhalten blieb (vgl. "Publikation Angern" 2022, S. 8). Dies legt nahe, dass die Trennung bis ins 18. Jahrhundert bestand und ihren Ursprung deutlich früher hatte.
Aus Sicht des Bergfrieds stellt sich die Verbindung zur Hauptburg als funktional wie symbolisch klar hierarchisiert dar. Die Turminsel war nicht autonom zugänglich, sondern vollkommen auf die interne Erschließung über die Hauptburg angewiesen. Eine direkte Brücke vom Festland bestand nicht. Auch ein Eingang auf der dem Festland zugewandten Seite (z. B. West- oder Südseite) ist nicht nachgewiesen und wäre der Reduit-Logik widersprochen.
Die Schießscharte in der Nordwand: Eine bemerkenswerte bauliche Besonderheit des Bergfrieds stellt die erhaltene Schießscharte in der Nordwand des untersten Geschosses dar. Sie liegt etwa zwei Meter über dem heutigen Geländeniveau und ist auf die Hauptburgseite ausgerichtet. Ihre Funktion war vermutlich die gezielte Überwachung des unmittelbaren Vorfeldes, insbesondere der vermuteten Brückenzone zwischen Hauptburg und Turminsel. Aufgrund ihrer Lage diente sie nicht der aktiven Gefechtsführung, sondern war als Sicherungselement konzipiert: ein Verteidiger im Inneren konnte aus erhöhter Position Bewegungen im Grabenbereich oder auf der Brücke beobachten und im Bedarfsfall mit Fernwaffen eingreifen – bei gleichzeitig maximaler Deckung. Die Schießscharte erfüllte damit eine Doppelfunktion als passives Verteidigungselement und als Symbol militärischer Präsenz in Richtung der Hauptburg. Ihre Positionierung unterstreicht zudem die Trennung zwischen Wohn- und Rückzugsbereich und zeigt, dass der Bergfried jederzeit auf eine eigenständige, wenn auch begrenzte Selbstverteidigung vorbereitet war.
Schießscharte im Erdgeschoss des Bergfrieds
Der isolierte Bergfried – Funktion und Zugang in der Burgenarchitektur des 14. Jahrhunderts
Die bauliche Verbindung zwischen der Hauptburg und dem auf einer eigenen Insel gelegenen Bergfried erfolgte mit hoher Wahrscheinlichkeit über eine erhöhte, fest installierte Zubrücke, die direkt in das erste Obergeschoss des Turms führte. Diese Konstruktion entsprach dem gängigen Verteidigungsschema spätmittelalterlicher Wehrbauten: Während das Erdgeschoss des Turms über Schießscharten verfügte und primär defensiven Zwecken diente, war der eigentliche Zugang bewusst in das erste Geschoss verlegt – erhöht und nur über eine Brücke erreichbar. Solche Brückenzugänge sind aus zahlreichen Vergleichsanlagen belegt², etwa bei der Neuenburg in Freyburg („Dicker Wilhelm“) oder der Burg Hanstein in Thüringen. In beiden Fällen war der Zugang ursprünglich nicht ebenerdig, sondern erfolgte über einen festen, nicht beweglichen Steg oder eine gemauerte Rampe. Auch in Angern spricht die Lage der erhaltenen Schießscharte im Erdgeschoss und die historische Geländetopografie für diese Lösung. Eine bewegliche Zugbrücke, wie sie an Torburgen Verwendung fand, ist hier hingegen architektonisch unwahrscheinlich. Die Zubrücke verband somit den funktionalen Wirtschaftshof der Hauptburg mit dem befestigten Rückzugsraum des Turms und stellte ein zentrales Element der inneren Sicherheitsarchitektur der Gesamtanlage dar. Die Zubrücke diente zur Versorgung, Lagererschließung sowie als möglicher Rückzugsweg im Verteidigungsfall.
Nordmauer des Erdgeschosses des 7-stöckigen Bergfrieds mit Schießscharte
Zugangssituation zum Bergfried: bauliche Rekonstruktion und funktionale Bewertung
Die wahrscheinlichste Zugangssituation zum Bergfried der Burg Angern ergibt sich aus seiner topografischen Stellung auf einer separaten Insel südlich der Hauptburg sowie seiner architektonischen Flucht mit dem nördlich anschließenden Palas. Aufgrund dieser Ausrichtung und der erhaltenen architektonischen Befunde spricht vieles dafür, dass die Brücke vom südlichen Wehrgang der Ringmauer der Hauptburg aus über den Graben hinweg zur Westseite des Bergfrieds führte. Diese westliche Position ist aus verteidigungstechnischer wie statisch-konstruktiver Sicht besonders plausibel.
Die Anbindung an der Westflanke des Turms bot dem Zugang zwei wesentliche Vorteile: Erstens war der Eingang nicht frontal einsehbar, sondern durch den Turmkörper seitlich gedeckt. Dies reduzierte die Verwundbarkeit bei Angriffen und erschwerte die direkte Einschusslinie auf die Brücke vom Gelände jenseits des Grabens. Zweitens ermöglichte die Lage eine relativ kurze Brückenspannweite, da der Abstand zwischen Wehrgang und Turmwestseite lediglich etwa 4 bis 5 Meter betragen haben dürfte. Diese Distanz konnte problemlos mit einer schmalen, leichten Holzkonstruktion überbrückt werden – etwa in Form eines aufliegend befestigten, im Ernstfall abnehmbaren Stegs. Die geringe Länge minimierte zudem statische Risiken und erforderte keine aufwändige Unterkonstruktion oder Zwischenpfeiler im Wassergraben. In ähnlichen Anlagen des 13. und 14. Jahrhunderts ist dieser Brückentypus mehrfach belegt – etwa in Falkenstein im Harz oder der Burg zu Bederkesa – wo kurze, geschützte Brückenverbindungen zwischen Wehrmauer und isoliertem Bergfried Teil des strategischen Rückzugs- und Kontrollsystems waren.
Die Einbindung des Zugangs in das erste Obergeschoss des Bergfrieds – auf Grundlage der bekannten Geschosshöhen bei rund 30 Meter Gesamthöhe und sieben Etagen – legt nahe, dass der Brückenkopf etwa 4 bis 5 Meter über dem Bodenniveau lag und damit auf Höhe der Ringmauerkrone endete. Dies passt zur Gesamtstruktur der Hauptburg, deren Wehrmauer ebenfalls rund 8 Meter hoch war, sodass der Zugang vom Wehrgang direkt in das erste Turmgeschoss mündete, ohne größere Niveauunterschiede überwinden zu müssen.
Ein Zugang von der Nordseite des Bergfrieds hätte konstruktiv nur über das erste Obergeschoss des Palas erfolgen können, da Palas und Turm in einer baulichen Fluchtlinie lagen. Eine direkte Verbindung vom Erdgeschoss des Palas zur untersten Etage des Turms ist hingegen auszuschließen. In der Nordwand des Bergfrieds befindet sich eine schmale Schießscharte, die den Einbau einer Türöffnung unmöglich machte und deutlich auf eine rein defensive Nutzung dieser Wandfläche verweist.
Neben der erhöhten Brücke vom Wehrgang zum ersten Obergeschoss des Bergfrieds existierte ein zweiter, bodennaher Zugang zur untersten Etage des Turms. Dieser führte vom direkt angrenzenden Tonnengewölbe auf der Turminsel direkt in das Erdgeschoss des Bergfrieds. Beide Bauteile – das Tonnengewölbe und das Erdgeschoss des Turms mit Schießscharte – sind bis heute vollständig erhalten. Ihre Lage und der noch vorhandene Wanddurchbruch belegen eine funktionale Verbindung, die vermutlich der internen Versorgung, der Anbindung technischer Funktionsbereiche oder dem geschützten Zugang im Verteidigungsfall diente. Im Gegensatz zur strategisch erhöhten Hauptverbindung über den Wehrgang bildete dieser ebenerdige Durchgang einen sekundären, aber dauerhaft angelegten Zugang, dessen Trasse im Gelände noch immer klar nachvollziehbar ist.
Das Innere des Bergfrieds war vermutlich über eine innenliegende Wendeltreppe oder einfache Holzleitern erschlossen. Ein schwerer Riegel sicherte die Eingangstür. Auf mehreren Geschossen verteilten sich einfache Lagerräume, Wachnischen, ein Wehrgeschoss und ein Beobachtungspunkt auf dem Dach. Eine Schießscharte auf der Nordseite etwa zwei Meter über Bodenniveau deutet darauf hin, dass Sichtkontakt zur Brückenzone bestand, was für eine passive Kontrolle des Zugangs spricht.
Topologie der Burg mit Zugang zum Bergfried (oben Süden, unten Norden)
Fußnoten
¹ Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt: Denkmalpflegeplan Neuenburg, 2008; Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege: Führungsbroschüre Burg Hanstein, 2011.
² Werner, Ernst: Burgen der Sächsischen Schweiz, Dresden 1993; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege: Baudenkmäler Oberfranken, 2005.
Quellen
Die Befunde zum Bergfried sind hier zusammengefasst.
- Kühn, Markus: Burg und Herrschaft. Der mittelalterliche Adelssitz in Mitteleuropa. Darmstadt: WBG, 2008. Beschreibung der vertikalen Nutzung von Türmen (Verlies, Wohnraum, Wachgeschoss, Wehrplattform).
- Boockmann, Hartmut: Die Burgen im deutschen Sprachraum – Vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 2002. Darstellung des Funktionswandels von Bergfrieden vom Wehrturm zum Wohn- und Symbolbau.
- Meier, Helmut: Burgentypologie in Mitteleuropa. In: Burgen und Schlösser, Jg. 45 (2004), Heft 1, S. 3–15. Strukturanalyse von Grundrissformen und Geschossaufteilung bei Turmbauten.
- Ziesemer, Erwin: Die mittelalterlichen Burgen der Altmark. Magdeburg: Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt, 1994. Regionale Beispiele aus der Altmark mit Bezug auf Schießscharten und Kellerverteidigung.
- Herrmann, Joachim: Studien zur frühneuzeitlichen Nutzung mittelalterlicher Wehrbauten in Brandenburg und Sachsen-Anhalt. In: Archäologie in Deutschland, Heft 2 (2001), S. 26–29. Belegt Umnutzungen im 17. Jahrhundert (z. B. Kammern, Dielen, nachträgliche Fensteröffnungen).